1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, sie mögen den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich beschreiben. Maxim Gorki hatte 1936 damit begonnen, »Einen Tag der Welt«, wie es damals hieß, zu porträtieren - mit großer Resonanz.
Christa Wolf reizte diese Idee, sie hat dann aber nicht nur den 27. September 1960 beschrieben, sondern von diesem Jahr an jeden darauffolgenden 27. September genau beobachtet und festgehalten, »mehr als die Hälfte ihres erwachsenen Lebens« - ein einmaliges literarisches Projekt, das nun veröffentlicht werden kann.
»Wie kommt Leben zustande?« - diese Frage beschäftigt Christa Wolf über all die Jahre. Die Familie spielt dabei eine wichtige Rolle und auf welche Weise sich ihr Beruf, das Schreiben, mit den häuslichen Anforderungen verbinden läßt. Das Schreiben und wie es ihr gelingt, das Tor zu dem »unerschöpflichen Bereich des Unbewußten« und Verbotenen aufzustoßen, ist eines ihrer immer wiederkehrenden Themen.
Und auch die Zeitereignisse, die sie in Bann halten, notiert sie von Jahr zu Jahr genau, die Politik, die sie betrifft, und den Zustand des Landes, in dem sie anteilnehmend lebt.
Ein Tag im Jahr ist Christa Wolfs persönlichstes Buch: ein bewegendes Dokument der deutschen Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein einmaliger Bericht vom Leben im "anderen Deutschland", ein authentisches Werk der autobiographischen Literatur.
Allein mit unserer Zeit
Die DDR sitzt mit am Tisch: Christa Wolfs 41 Herbsttage
So sieht an einem Donnerstag im Jahr 1979 das Leben in Mecklenburg aus: „Eine neue Schule, in der es noch nach Kalk und Farbe riecht, die POS II. Frau B. wartet schon, der Raum, in dem die Lesung sein soll, sonst das Lehrerzimmer, füllt sich. Tische mit glänzenden Sprelakartplatten in Hufeisenform aufgestellt, giftgrüne Platzdeckchen, die keine Funktion haben, über sie verteilt, an der Wand ein strahlender jugendlicher Honecker vor himmelblauem Bildhintergrund: sicher von einem Werbefachmann so arrangiert. Herr St. leitet ein.” Eine Erzählung könnte so beginnen, eine der beliebten Prosaminiaturen über die Gattung des lesenden, diskutierenden Schriftstellers.
Aber eine Geschichte zum Anfassen, „etwas Festes, Greifbares, wie ein Topf mit zwei Henkeln”, will sich nicht ablesen lassen aus den 41 Berichten über einen „Tag im Jahr”, die Christa Wolf seit 1960 alljährlich geschrieben und nun veröffentlicht hat. Es handelt sich nicht um die Kapitel eines Romans verlorener Illusionen. Gewiss, man kann hier noch einmal verfolgen wie aus der jungen Christa Wolf, die 1960 in Halle mit ihrem Mann Gerhard Wolf recht ernst über „Kunst und Revolution, Politik und Kunst, Ideologie und Literatur” spricht, die weltberühmte Autorin wird, deren Weltverhältnis Ende der sechziger Jahre bricht und gebrochen bleibt. Es mag, wer will, in diesem umfänglichen Buch nach Formeln suchen, die Christa Wolfs Verhältnis zur DDR erfassen. Dem besonderen Reiz dieser Tagebuchblätter wird eine solche Suche nach „Stellen” nicht gerecht.
Eine Idee Maxim Gorkis aufgreifend, hatte 1960 die im Jahr der Oktoberrevolution gegründete „Iswestija” die Schriftsteller der Welt aufgerufen, den 27. September zu beschreiben, einen Tag wie Dutzende andere auch. „Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant”, begann Christa Wolf ihren Bericht, er wurde vierzehn Jahre später veröffentlicht. Das Datum blieb markiert im Kalender. Gegen die Furie des Verschwindens, „diesen unaufhaltsamen Verlust von Dasein” setzte sich, mal in freudvoller Erwartung, mal pflichtbewusst Christa Wolf in jedem Herbst an die Schreibmaschine.
Ein solches Unternehmen hat seine Tücken. Man verliert die Unbefangenheit gegenüber einem Tag, wenn man weiß, dass man über ihn schreiben wird. Auch gab es Jahre, in denen am Tag selber keine Zeit blieb zur Niederschrift, die dann erst später erfolgte. Aber dem literarischen Programm Christa Wolfs kam der Aufruf der „Iswestija” dennoch sehr entgegen.
Wie man keinen Gewinn macht
Von einem Garten, grün, wuchernd, üppig, wild, dem „Garten überhaupt” handelt eine der schönsten Erzählungen von Christa Wolf, „Juninachmittag” aus dem Jahr 1965. Hier fand sie zu ihrem Ton. Die Erzählung war auch eine Verteidigung des Alltags, des Familienlebens gegen allerlei Ansprüche von außen, gegen den Bitterfelder Zwang zum halb Heroischen, halb Produktiven. Und sie wurde nur deshalb nicht zur blumig-duftenden Wiesenidylle, weil die Ansprüche der Welt doch nicht geleugnet, weil im Gegenteil aus dem Garten heraus Ansprüche auf Welt angemeldet wurden.
Darin liegt wohl der andauernde Grundkonflikt dieses Lebens. „Viel Zeit vertan mit falschen ,Engagements‘”, notiert Christa Wolf 1977. „Sich selbst nicht so wichtig nehmen, die eigene Rolle realistisch einschätzen, ist vielleicht auch eine Art von Resignation.” Sie sucht einen Winkel, „in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfung, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, daß ich so bin oder: so werde.” Aber sie weiß, dass es diesen Winkel für sie nicht gibt und dass sie es darin auch nicht lange aushalten würde. „Eigentlich habe ich eine Abseits-Rolle nie angestrebt”, heißt es 1979.
Wer „Ein Tag im Jahr” zur Hand nimmt, ist versucht, sofort die entscheidenden Jahre nachzuschlagen: Mauerbau, 11. Plenum, Prager Frühling, Biermann-Ausbürgerung, Wende. Aber das Buch sperrt sich dagegen, will nicht als Kommentar zur Zeitgeschichte gelesen werden. Der alltägliche Rhythmus aus Aufstehen, Einkaufen, Kinder versorgen, Kochen, Schreiben, Schlafengehen behauptet sein Eigenrecht gegen die Zeitgeschichte wie gegen den Zwang und den Wunsch, das eigene Leben als sinnvolle Folge von Ereignissen zu erzählen.
Aber die DDR, die ihren Bürgern ein fast familiäres Verhältnis der Nähe aufgezwungen hat, die nicht bloß Staat, sondern Lebensform sein wollte, sitzt immer mit am Tisch. Das kommt dem menschlichen Bedürfnis zur Einmischung, zum Wirken entgegen, weckt aber früh schon auch den Wunsch, intensiv in Ruhe gelassen zu werden, nach Innen gewendete Fluchtgedanken: „Ich sehe, daß die nächsten Jahre schlimm werden, daß man sich nur einigermaßen bewahren kann, wenn man sich nicht den üblichen Massenveranstaltungen aussetzt, daß aber dies wieder zu einer gewissen Isolierung und Lebensfremdheit führen muß ... Ich spüre es bei jeder Berührung mit der Öffentlichkeit. Die eigene Welt, die wir uns gezimmert haben, kann nicht ewig halten. Jedem Auto, das nachts bei uns vorbeifährt, lausche ich nach.”
Der Leser lernt in diesen Tagebuchblättern vor allem die Familie Wolf kennen: die Töchter, Annette und Tinka, deren Freunde und Männer, und Gerhard Wolf, den Begleiter all der Jahre, den beruhigenden, kritisierenden, ermunternden Gesprächspartner. 1990 sitzt das Ehepaar beim Steuerberater, Gerhard Wolf hat seinen Verlag Janus Press gegründet. Welchen Gewinn er denn erwirtschaften wolle: „Gar keinen. Er wolle endlich die Bücher machen, die ihm schon lange am Herzen gelegen hätten.”
Dass er das erst 1990 kann, sagt genug über die DDR. Dennoch ist der Bericht vom 27. September 1990, während der Kampagne gegen „Was bleibt” geschrieben, der wohl bitterste aller dieser Einträge aus dem Herbst. Kurz notiert wird das Gespräch mit einem amerikanischen Psychoanalytiker: „Aber guck dir doch die an, die gegen dich losziehen! Sie sind selbst leer, hassen das Lebendige in Dir. Oder nehmen sich selbst etwas übel und müssen ihren Selbsthaß auf dich projizieren! – Ich immer wieder: Ja, ja. Aber es bleibt ein Rest, wo sie recht haben. – Er: Sie haben nicht recht. Die Schuld, die du empfindest, ist eine andere, als sie dir einreden wollen.”
Zwanzig Collagen Martin Hoffmanns, zusammengestellt aus Pressefotos und Schnappschüssen vom Alltagsleben, Kneipenszenen, Versammlungen oder einen Pioniernachmittag zeigend, illustrieren das Buch. Ähnlich verfährt Christa Wolf beim Schreiben. Zwischen Aufstehen und Zu-Bett-Gehen ist Platz für Landschaftsschilderungen, Einkäufe im Dorfkonsum oder im Intershop, für Gespräche, Zufallsbegegnungen, Telefonate, Lesungen, Fernseheindrücke, Lektüre. Von Halle zog die Familie zunächst nach Kleinmachnow, später nach Berlin. Viel ist vom Haus in Mecklenburg die Rede, das die Leser aus „Sommerstück” kennen. Es gibt Berichte aus Köln, wo Christa Wolf an der Trauerfeier für Heinrich Böll teilnahm, aus Zürich, wo sie Max Frisch traf, und aus Santa Monica. Durch das serielle Prinzip erhält der Leser Einblick ins Wolfsche Universum, fragt sich, welches Geschenk Tochter Tinka, die am 28. September Geburtstag hat, in diesem Jahr erhalten wird, fürchtet die Eintragungen über Schlaflosigkeit, Krankheiten, Enttäuschungen.
Es ist eine sehr stabile Welt, von innen beunruhigt durch den Versuch, sich selbst verständlich zu werden, das eigene Verhalten zu erklären, auch zu rechtfertigen. Aber das lässt Mitte der neunziger Jahre nach. „Anscheinend bin ich aus dem Status der Zeitgenossin in den der Zeitzeugin gerutscht.” Die Frage nach Versagen, Verdienst und Schuld ist der Frage gewichen, wie es gewesen und geworden ist. So werden diese persönlichen Tagebuchblätter zu einem Dokument. Sie erzählen, wie man sich selbst historisch wird. Das ist ein Schritt in die
Freiheit.
JENS BISKY Süddeutsche via
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Gestrickte Handschuhstulpen
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Wir reichen heute: Macarons noir
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Lasst es Euch schmecken! Bis nächsten Freitag im Belletri-stick Salon...