Freitag, 18. November 2011

Nervöse Fische, Schwimmflossenpumps & Piranha

Für den Wiener Chefinspektor Lukastik, Logiker und gläubiger Wittgensteinianer, steht fest: »Das Rätsel gibt es nicht.« Das meint er selbst noch, als er auf dem Dach eines Wiener Hochhauses im Pool einen toten Mann entdeckt, der offensichtlich kürzlich durch einen Haiangriff ums Leben kam. Mitten in Wien, achtundzwanzigstes Stockwerk. Und von einem Hai keine Spur. Nun steht der Wiener Chefinspektor nicht nur vor einem Rätsel, es sind unzählige: Ein Hörgerät taucht auf, zwei Assistenten verschwinden. Und die Haie lauern irgendwo …
 

Manchmal gibt es Grenzfälle. Die Grenze zwischen dem Denkbaren und dem Undenkbaren, wie es wohl Steinfests Kommissar Lukastik ausdrücken würde. Inwiefern ist es denkbar, dass unter dem Titel »Nervöse Fische« ein Kriminalroman lauert. Mit einem großen Kunststofffisch, der auf der Reklametafel eines Schnellimbisses lauert, auf dem Cover. Nunja, denkt man sich, der Autor hat immerhin den deutschen Krimipreis 2004 gewonnen. Wenn man dann auch noch den Klappentext liest und erfährt, dass ein durch einen Haiangriff getöteter Mann in einem Swimmingpool auf einem Wiener Hochhaus gefunden wird und der Kommissar ein »Logiker und gläubiger Wittgensteinianer« sein soll und es für ihn keine Rätsel gibt, dann ist man auf den ersten Eindruck wohl bei so einen Grenzfall gelandet, was quasi bedeutet, dass dieser Roman weder Teil des einen noch des anderen sein kann, in einem Raum des Unentschiedenen und des Ununterscheidbaren schwebend. Hier greift der Grundsatz: Don’t judge a book by it’s cover.


Großstadthaie

Ein namenloser Toter auf einem Wiener Hochhaus. Als wäre er in dem Pool hier oben schwimmen gegangen und dann plötzlich von einem Hai attackiert worden. Leider fehlt von dem Hai jede Spur, obwohl er eigentlich keinen Fluchtweg gehabt haben dürfte. Die einzige Spur, die es gibt, ist ein Hörgerät, das zu der Leiche zu passen scheint. Über die Registrier-Nummer kommt man einem Friseur auf die Spur, der in einer Tankstelle nahe des Dörfchens Zwettl wohnt. Lukastik schickt seine Assistenten, die aber noch am gleichen Abend verschwinden und auch per Handy nicht mehr erreichbar sind. Also macht sich der Kommissar zähneknirschend selber auf den Weg.

Er findet tatsächlich den Frisör, der ihm von einem Graphologen aus dem Ort namens Oborin erzählt, für den er besagtes Hörgerät gekauft hat. Jener Schriftkundler hat nicht nur die Handschriften von jedem lebenden Bewohner des Ortes analysiert, sondern kümmert sich auch gönnerhaft um den Mönchsstift Zwettl. Hier studierte der Mann antike Handschriften, nun ist er offenbar tot. Oborins blutjunge ungarische Lebensgefährtin erscheint Lukastik auf den ersten Blick ebenso unschuldig wie der begnadete Frisör, weswegen Lukastik beiden eigenmächtig nahe legt, sich vom Ermittlungsort zu entfernen. Dann begibt er sich zum Stift, um endlich mehr über seine Leiche zu erfahren.


Metapher- und detailreiche Sprache, Traumwelten, eigenwillige Charaktere

Ich dachte immer, dass mich Detailverliebtheit zwangsläufig zur Weißglut treiben muss. Steinfest schafft es, aus jeder noch so kleinen Winzigkeit auch den geringsten Elementarteilchen einen Absatz zu widmen. Er macht dies aber mit einer derart Begeisterung stiftenden Konsequenz, Originalität und Ausdauer, dass mich das Buch richtiggehend fesseln konnte. Im ersten Kapitel stehen die Beamten um den besagten Swimmingpool und es passiert auf 16 Seiten nichts. Aber wenn dann ein Wissenschaftler neben einer Stehlampe wie ein Küken unter einer Glühbirne im Brutkasten anmutet, dann beginne ich die Liebe des Autors zum Detail plötzlich zu teilen.

Wunderbar eigentlich die komplette Inszenierung und die Personen. Lukastiks Büro in einer Lagerhalle, die sich Polizei und Museum Wien teilen (weswegen im Büro des Kommissars ein 2x3m großes Altarbild des hl. Stephanus hängt); der Haiforscher mit Angst vor dem Wasser; die Tankstelle »Rolands Teich«: ein riesiger Glaskomplex mit Supermarkt, Western-Bar und Frisörsalon; der ermordete Graphologe; das Dorf »Nullpunkt« mit dem Sanatorium »Zum goldenen Huflattich«. Alles ist so unwirklich, surreal, wie die beiden japanischen Roboterfische im Aquarium der Western-Bar, und doch könnte auch alles genau so passiert sein. Dadurch bleibt der Roman ein Grenzfall, wobei Realität und Kunst ineinander verschwimmen.

Letztlich noch zu Lukastik: eine solche Ausgeburt an Arroganz und Überheblichkeit in der Hauptrolle ist einem selten unter gekommen. Er ist der absolute Einzelgänger, der dabei nicht nur eine kleine Macke, sondern eine Vielzahl ganz großer Macken besitzt. Er trampelt selbstherrlich durch die Tatorte, wie es ein Elefant nicht besser fertig gebracht hätte, begeht Fehler und zieht falsche Schlussfolgerungen, führt dabei aber immer Wittgensteins »Tractatus« mit sich, aus dem er seine Lebensweisheit bezieht. Lukastik, was ist das eigentlich für ein Name? Eine Mischung aus Stochastik, Genetik und Numismatik, eine eigene Wissenschaft für sich? Ohne Zweifel wohl einer der eigenartigsten Ermittler, trotz oder gerade wegen seiner vielen Eigenarten ein Nonkonformist, der sich in kein Muster zwängen lässt.


Ein Roman gegen den Mainstream

»Nervöse Fische« ist abermals ein Roman von Heinrich Steinfest, an dem sich die Geschmäcker scheiden werden. Als ob sich Steinfest dessen bewusst ist, thematisiert er Grenzwertigkeit und Gratwanderung. Durchsetzt von literarischem Surrealismus begeistern neben Wortwahl und Genialität der Sprache auch die Kraft der Bildhaftigkeit und die Qualität der Charakterdarstellungen. Bis zum Schluss ist dem Leser die Frage erlaubt, ob er sich nur in einem Fiebertraum befindet? Steinfest schreibt keinen kalten Abklatsch eines amerikanischen 08/15-Stiles, er lässt sich nicht mit skandinavischer Gesellschaftskritik unter einen Hut bringen, auch französischer Noir ähnelt seinem Stil nicht im Entferntesten. Er schreibt Feinkost, die sich am besten mit einem guten Glas Wein und viel Ruhe genießen lässt, keine Fast Food für das schnelle und einfache Lesen in der S-Bahn. Trotzdem enthält der Roman Spannungsmomente, der Autor kokettiert mit ihnen und streut sie locker und beiläufig ein, ohne seinen intelligenten Wortwitz dabei zu vernachlässigen. Steinfest verschmäht den Mainstream und wird deshalb seine Leserschaft spalten. Er hat den Kunstroman krimifähig gemacht, wofür ihm höchstes Lob gebührt, und bestätigt am Ende Wittgensteins These, dass es keine Rätsel gibt. 

Thomas Kürten via Krimicouch  




Erster Satz
Der Mann, der hier das Sagen hatte, blickte in den Himmel.

Schöne Sätze

Der Mann war in erster Linie gerade. Nicht steif und schon gar nicht straff, sondern einfach gerade, so wie Wände gerade sind oder Fassaden oder gewisse runde, große Flächen, wenn man mit der Nase an ihnen klebt. Seine Geradheit war ohne Charme, aber auch ohne Aufdringlichkeit. Alle sahen das so. Nur Lukastik nicht, welcher Jordans Gradheit einen buckligen Hintergrund unterschob. Und somit irgendeine Verlogenheit witterte.

Der jetzt gesprochen hatte, war der zuständige Polizeiarzt Dr. Paul, ein kleiner Mann mit schiefer Krawatte, der vor allem bekannt war für die Schönheit seiner viel jüngeren Frau, deren selbstverständliche und radikale Treue den meisten ein Rätsel und ein Ärgernis war.

Ein Verbrechen, vor allem die vermeintliche Exklusivität eines Verbrechens, schien ihn persönlich zu beleidigen, so daß er alles unternahm, um aus dem Besonderen einer kriminellen Handlung das Allgemeine wie das Alltägliche herauszuschälen. Das war sein großer Antrieb: Entmystifizierung.

Lukastik hatte - wie viele andere Menschen auch - rein persönliche Verbote und Vorschriften entwickelt, die außerhalb der üblichen Zweckgebundenheit oder Konvention standen. Derartige Handlungen (berühmt ist das Überspringen von Bodenlinien) dienten einer inneren Ordnung. Und genau darum, weil der Sinn nicht offenkundig zutage trat und streng besehen auch gar nicht bestand, lag die Einhaltung der Regeln außerhalb jeder Diskussion.

"Können wir vielleicht über etwas anderes reden?" erkundigte sich die Mutter, eine betont elegante und kultivierte Person, die in so gut wie jedem Umfeld den Eindruck hinterließ, von Barbaren umgeben zu sein. Es war nicht unbedingt affektiert zu nennen, was sich in ihrem Gesicht abspielte, denn Grimassen vermied sie natürlich. Eher handelte es sich um eine minimale, aber wesentliche Verschiebung der Züge, wie wenn jemand in dem Moment, da er einen gerade noch genießbaren Wein konsumiert, daran denkt, daß dieser Wein demnächst gekippt wäre.

Lukastik griff in seine Anzugtasche und zog das kleine Büchlein heraus, das er ausnahmslos bei sich trug: Wittgensteins Tractatus. Man konnte nie wissen, was geschah. Andere Leute besaßen eine Latte von Kreditkarten, überquerten ohne Handy keine Straße oder gingen nie ohne ein Fläschchen mit Wiener Leitungswasser, einem Beutel Instantkaffee und einem Stadtplan aus dem Haus. Viele Menschen ließen sich von einem Hund begleiten oder trugen einen Glücksbringer am Herzen. Lukastik hingegen vertraute auf dieses kaum mehr von hundert Seiten starke Buch, jene Taschenbuchausgabe von Suhrkamp, die so überaus handlich in Innen- und Außen-, Sakko - und Hosentaschen paßte und sich wegen des brennend roten Umschlags auch bestens eignete, die eigene Farblosigkeit zu mindern.

Die Stühle und Tische weckten absolut keine andere Assoziation, als von Menschen genutzt zu werden. So wie die Lampen ausschließlich der Beleuchtung zu dienen schienen, der Erhellung des Raumes und der Handlungen. Selbst die Speisen schmeckten einzig und allein nach sich selbst, ein Rindsgulasch nach Rind und nicht etwa nach zerdrückten Mandarinen oder wonach auch immer ein Gulasch schmecken konnte, wenn man nur umständlich genug an ihm herumbastelte.
Und daß Nebenwirkungen sich rascher einstellten als die endgültige Genesung, erschien ihm eigentlich nur logisch. Einer jeden Lösung und Erlösung war ein Problem oder eine Qual vorgelagert, so wie sich ja auch ganz grundsätzlich vorweg das anstrengende Leben ereignet und dann erst der befreiende Tod.


Letzter Satz
Der Putzerfisch in seinem Kopf trieb gemächlich dahin.
 


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Fundstück:
Schwimmflossenpumps
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via Vor mir die Welt




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Wir reichen heute: Piranha
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via

Salute! Bis nächsten Freitag im Belletri-stick Salon...


2 Kommentare:

  1. Werd schon immer ganz nervös, wenn ich den Namen Steinfest höre, weil 'Nervöse Fische mein Erster war und seitdem ist das so`. <3

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  2. Schön, wenn alles so miteinander harmoniert ;)

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