Freitag, 4. November 2011

Allerseelen, Fin de siècle & Genever


Arthur Daane, ein vierundvierzigjähriger niederländischer Kameramann und Dokumentarfilmer, der hin und wieder auch Werbespots dreht, streift 1997 durch das verschneite Berlin und hängt dabei seinen Gedanken und Erinnerungen nach. Mit seiner Kamera sammelt er seit Jahren Material für einen persönlichen Film, in dem er versuchen möchte, Momente vor dem Vergessen zu bewahren. Als er im Café "Einstein" nach der Zeitung "El País" greift, kommt er um Sekundenbruchteile einer jungen Frau zuvor, die ihn wütend anstarrt und sich dann stattdessen mit "Le Monde" zurückzieht. Ihr "Berberkopf'" und die beiden Narben im Gesicht und an der Hand sind ihm aufgefallen.
"Allerseelen" ist ein kosmopolitischer, einfühlsamer und grüblerischer Roman über eine unglückliche Liebe und zwei Menschen auf der Suche nach sich selbst. Die Geschichtsstudentin Elik Oranje flieht aufgrund eines Kindheitstraumas vor der Liebe und recherchiert lieber über eine spanische Königin aus dem frühen 12. Jahrhundert, die Krieg gegen ihren Ehemann führte. Der Dokumentarfilmer Arthur Daane kommt nicht über den Tod seiner Frau und seines Sohnes hinweg und sammelt unentwegt Material für einen persönlichen Film, in dem er versuchen möchte, Momente vor dem Vergessen zu bewahren. Bestimmt ist es kein Zufall, dass Cees Nooteboom ihn immer wieder nach unten gehen lässt, zur U-Bahn, in Eliks Souterrain-Zimmer, in die Kathedrale von Sigüenza.
Erster Satz
Erst einige Sekunden nachdem Arthur Daane an der Buchhandlung vorbeigegangen war, merkte er, daß sich ein Wort in seinen Gedanken festgehakt hatte und daß er dieses Wort inzwischen bereits in seine eigene Sprache übersetzt hatte, wodurch es sofort ungefährlicher klang als im Deutschen.

Schöne Sätze
"Was willst du bloß in Deutschland?", fragten niederländische Freunde ihn regelmäßig. Meist klang das dann, als habe er sich eine schwere Krankheit zugezogen. Er hatte sich eine stereotype Antwort zurechtgelegt, die in der Regel ihre Wirkung tat. "Ich bin gern da, es ist ein ernsthaftes Volk." 

"Ich kann die Vergangenheit doch schwerlich leugnen."
"Ist auch nicht nötig. Aber du treibst es zu weit, du bist ewig dabei, aus der Gegenwart eine Vergangenheit zu machen. Du bringst immerzu alle Zeiten durcheinander. Auf diese Weise bist du nie irgendwo richtig." 
"Es ist doch ein Unterschied, ob die Natur etwas erschafft oder ob du etwas erschaffst, stimmt's oder stimmt's nicht?"
"Bin ich denn keine Natur?"
"Oh doch, du bist auch ein bisschen Natur. Unvollendete Natur, verschandelte Natur, sublimierte Natur, das kannst du dir selbst aussuchen. Aber eines kannst du nicht – und das ist: nicht dabei denken, wenn du etwas erschaffst."
"Ist Denken denn unnatürlich?"
"Hab ich nicht gesagt. Aber in dem Moment, in dem du über die Natur nachdenkst, entfernst du dich von ihr. Die Natur kann nicht über sich nachdenken. Du schon."
"Aber dann könntest du auch sagen, dass die Natur mich benützt, um über sich nachzudenken ..."

Der Chor bei Sophokles hat eine Meinung. Wir nicht. Der Chor bei Heinrich V. bittet um ein Urteil. Tun wir auch nicht.
Bei der Medea des Euripides darf der Chor erzählen, dass er weiß, was danach kommt. Bei Sophokles darf er bitten und flehen, aber er sagt nichts vorher. Wir selbst spinnen nichts, aber wir sehen das Gespinst [...]

Keine Meinung, kein Urteil. So lautet der Auftrag.

Letzter Satz
"Und wir? Ach wir ..."
 


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Sticken: Fin de siècle
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Wir reichen heute: Genever
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Foto: Stefan Thurmann via
 

Salute! Bis nächsten Freitag im Belletri-stick Salon...



3 Kommentare:

  1. Das ist eine wunderschöne Annäherung und Einschätzung dieses Buches. Danke dafür!

    Gruss, Brigitte

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  2. Danke für den Buchtipp. Ich hab's in meiner SZ-Bibliothek, aber es gehört zu jenen, die ich noch nicht gelesen habe.

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  3. <3 <3 <3 ;)
    Zauberhaft! Liebe Grüßlis!

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