Freitag, 9. Dezember 2011

Das amerikanische Hospital, Bestickter Stiefel & Siebenbürger Kleingebäck


Das amerikanische Hospital - Gottes Werk und Doktors Beitrag


Die Ethik ist die Lehre vom Guten. Ist sie auch selbst etwas Gutes? Wozu ist sie gut? Eine Antwort, auf die einen die Lektüre von Michael Kleebergs Roman „Das amerikanische Hospital“ bringen kann, lautet: zur Ablenkung, zum Zeitvertreib. Der Roman handelt von einer Französin namens Hélène, die sich im Amerikanischen Hospital von Paris einer künstlichen Befruchtung unterzieht. Die drei Monate zwischen dem ersten Beratungsgespräch und dem Beginn der Behandlung sind „mit Tätigkeit gefüllt“. Der Erzähler zählt die medizinischen Untersuchungen und administrativen Prozeduren auf, die Hélène und ihr Mann abzuhaken haben. Als bereiteten sie sich auf eines der für die französische Bildungswelt charakteristischen Examina vor, müssen sie „sich anhand mehrerer Broschüren und Bücher in die technischen und ethischen Aspekte der medizinisch assistierten Prokreation und ihrer Alternativen einlesen“. Aber die Entscheidung ist gefallen, und die obligatorische Lektüre dient nur dazu, die Frage gar nicht aufkommen zu lassen, ob die Entscheidung die richtige war.
Indem sich Hélène in die Hände von Doktor Le Goff begibt, der so heißt wie der berühmte Historiker des Fegefeuers, beginnt eine Höllenfahrt. Der Plan, den Leib zu überlisten, dort auf technischem Wege zu implantieren, was sich natürlich nicht entwickeln will, ist ein Rezept für furchtbare Qualen. Das ist die Botschaft des Buches, die freilich nicht im Stil und mit dem Anspruch eines medizinkritischen Pamphlets entwickelt wird, sondern durch den Einsatz aller Hausmittel der Romankunst. Die Geschichte wird im Rückblick erzählt, und was den Zusammenhang stiftet, sind Suggestionen der Fatalität. Dieser Roman Kleebergs ist nicht lang, und leicht kann es geschehen, dass man ihn in einem Zug durchliest. In der bezwingenden Logik der Form liegt auch eine Relativierung des Gehalts. Man muss nicht darauf dringen, dass die Ethikkommissionen von IVF-Kliniken nun dieses Buch der Pflichtlektüre zuschlagen; was der Roman zur Evidenz bringen kann, ist nur die Moral seiner Geschichte. Allerdings wird im Roman am Beispiel der Lyrik auch die Fähigkeit der Literatur erörtert, Erfahrungen eines Einzellebens festzuhalten, die ein Fremder nachempfinden kann. Am Ende des Romans stellt sich heraus, dass der Erzähler ein Beteiligter ist.
Es geht um den ersten Golfkrieg
Wo die Behandlung nach Plan verläuft, wird sie nicht in den Einzelheiten beschrieben. Die lateinischen Namen der einzelnen Schritte versprechen, dass Le Goff, der gelehrte Spezialist, die Sache im Griff hat. Für die Komplikationen gibt es ähnlich entlegene Fremdwörter mit derselben anästhesierenden Wirkung. In diesen Passagen ist der Stil des Romans klinisch im Sinne schonender Diskretion. Drastisch geschildert wird dagegen der Horror des in den Zeitplänen nicht vorgesehenen Abbruchs des Prozesses, die plötzliche Abstoßung des Gebildes, das unter permanenter Überwachung herangewachsen ist. Hélène beseitigt die Spuren, ohne ihren Mann zu wecken, und ihr fällt für das, was sie im Badezimmer fortwischt, eine englische Wendung ein: „a bloody mess“.
Sie hat die Formulierung von einem Amerikaner gehört, dem Armeeoffizier David Cote, den sie in der Lobby des Amerikanischen Hospitals kennengelernt hat, als Quintessenz einer Geschichte, die Cote ihr zunächst nicht erzählte. Sie musste ihn erst ausdrücklich bitten, von seinen Kriegserlebnissen zu reden. Es geht um den ersten Golfkrieg, der Roman spielt in den frühen neunziger Jahren. Die erste von Cotes Geschichten aus dem Krieg wird nachgetragen; der Erzähler präsentiert Cotes Erzählung als Nacherzählung im Kopf Hélènes, die in der Erinnerung an den Bericht des Amerikaners ein Bild ihres eigenen Unglücks findet und eine Art von Ablenkung zugleich. So wird das Problematische der narrativen Ästhetisierung des Grausamen markiert und angedeutet, dass hier eine psychische Motorik am Werk ist, der man mit ethischen Kategorien aus dem Lehrbuch nicht beikommt.
Der Roman ist ein Experiment
Was der traumatisierte Hauptmann erzählt hat, ergibt ein Bild des reinen Schreckens. Es ist unerträglich, sich das Geschehen als tatsächliches vorzustellen; dass die Szene sich einbrennt, hat aber in obszöner Weise mit einer ästhetischen Qualität zu tun, mit einer Travestie der märchenhaften Schönheit von Tausendundeiner Nacht. Die Leidenden sind hier noch keine Menschen, sondern Tiere. Doch das Fabelmotiv hat seine eigene Furchtbarkeit. In aller Unschuld müssen die Tiere zugrunde gehen; sie wissen nicht, wie ihnen geschieht. Sieben Ibisse landen in majestätischem Flug auf einem See. Der See besteht aus Rohöl. Die Vögel ersticken, öffnen die Schnäbel, „als bettelten sie die Sonne an“, und lassen ein Krächzen hören, in einer makabren Parodie des sterbenden Schwans.
Darf man die Schrecken des Krieges und die Leiden einer unfruchtbaren Frau in Beziehung setzen? Der Roman macht die Probe auf dieses Exempel der Metaphernfabrikation, der wechselseitigen Bedeutungsübertragung. Er ist ein Experiment, dessen Bedingungen der Autor bestimmt. Hier tritt der poetologische Nebensinn des Romantitels hervor. Nicht nur treffen sich Hélène und Cote immer auf dem Boden des Amerikanischen Hospitals; nicht nur ergibt sich aus der Verschränkung der Behandlungszyklen der Handlungsrhythmus. Der Autor selbst ist auch eine Art Chefarzt: Wenn er aus einem Männerschicksal und einem Frauenschicksal einen Roman macht, ist das eine ähnliche Operation wie die Nachhilfe bei der Verschmelzung von Ei und Samenzelle.
Menschheit durchaus im Sinne der Französischen Revolution
Gleichsam als Kulisse bleibt das Künstliche, Geschaffene der Konstellation gegenwärtig, indem der Erzähler alles aus der Begegnung der beiden Hauptfiguren entwickelt und bei der Ausstattung mit Details eine Ökonomie walten lässt, die für das Gesundheitssystem ein Maßstab sein könnte. Wie in Ford Madox Fords Roman „The Good Soldier“ wird das Typische der Figuren betont: Hauptmann Cote firmiert meistens als der Amerikaner, und Hélènes Meinungskostüme kommen von der Stange französischer Nationalvorurteile. Anders als Doktor Le Goff kann Michael Kleeberg mit Fingerspitzengefühl etwas ausrichten: Er nimmt keine Gleichsetzung vor, alle Vergleichbarkeiten - die Psychiater wollen nachträglich Cotes Kriegserfahrung begradigen, wie Le Goff von außen Hélènes Hormonkurven manipuliert - bleiben relativ zu den Horizonten der Protagonisten und jederzeit punktuell. Die Gespräche geraten immer wieder ins Stocken, versiegen, brechen ab. Für die Hemmungen und Schroffheiten, die in dieser unwahrscheinlichen Freundschaft ein Ausdruck der Offenheit und des Vertrauens sind, findet Michael Kleeberg eine Syntax von anrührender Lakonie.
Der von Panik zerfressene Kriegsheld Cote muss sich in Begleitung Hélènes die Welt jenseits des Hospitals Schritt für Schritt zurückerobern. Zuerst führen ihre Spaziergänge sie in Parks, also an befriedete, kunstvoll hergerichtete Stätten. An dem Tag, als Hélène endlich Le Goff den Dienst aufkündigt, ist Generalstreik in Paris. Die Metro fährt nicht, und Hélène und der Amerikaner werden hineingezogen in die Menschenmasse, die sich durch die Riesenstadt wälzt. Großartig gestaltet Kleeberg diese Überwältigung durch die soziale und körperliche Wirklichkeit, die Menschheit durchaus im pathetischen Sinne der Französischen Revolution. Auch in diesem Ausnahmezustand versagt er es sich, den Wunderheiler zu spielen, und den beiden Geretteten die Liebesgeschichte anzudichten, die sich der Leser vielleicht gewünscht hat. Hélène und der Amerikaner trennen sich am Ufer der Seine, und ihnen bleiben Fetzen von Gedichten, Geschichten von Geschichten oder der Gedanke an einen Ausflug, den sie nie gemacht haben, als Chiffren eines hypothetischen Glücks.



 Erster Satz:



((_,»*¯**¯*«,_)) ((_,»*¯**¯*«,_))
Bestickter Stiefel
((_,»*¯**¯*«,_)) ((_,»*¯**¯*«,_))



 
((_,»*¯**¯*«,_)) ((_,»*¯**¯*«,_))
Wir reichen heute: Siebenbürger Kleingebäck
((_,»*¯**¯*«,_)) ((_,»*¯**¯*«,_))


via

Lasst es Euch schmecken! Bis nächsten Freitag im Belletri-stick Salon...
 
 
 

2 Kommentare:

  1. Sehr schöner Beitrag, wieder einmal, ihr Lieben! Und die Stickereien sind entzückend! Ich nehm mir mal nen Keks : )

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  2. Dieses Buch hat mich gefesselt - es ist wunderbar!
    Na und Eure anderen Augenschmäuse: Cahapeau!

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